Leseprobe aus

CAMELON: GEFAHR AN DER EINHORNQUELLE

 

***


ERSTER TEIL:
DIE BÖSEN KREATUREN DES WOLKENHORTS

Eins: Monströse Klauen

Charlie sah gerade noch, wie sich das Monstrum aus dem feuerspeienden Krater heraus stemmte, der in den gigantisch dicken Burgmauern klaffte.
   Eine solche Burg konnte es eigentlich gar nicht geben, weil sie aus einem Wolkenmeer emporragte, als wäre das völlig selbstverständlich.
   Flammen prasselten und schlugen hoch in einen nachtschwarzen Himmel empor. Irgendwo in den steinernen Tiefen der unmöglichen Burg gellten schmerzerfüllte, dann zunehmend wütende Schreie. Eine Menge Rauch wirbelte in trägen Schwaden. Kurz sah es aus, als hätte das Monster Feuer gefangen.
   Sehr kurz.
   Schon im nächsten Moment verformten sich sehr viele Rauchspiralen zu zwei furchtbaren Armen. Solche Arme konnte es eigentlich genauso wenig geben wie die Burg, aber zu einem Monster wie jenem, das in der Feuerhölle des Kraters um sich schlug, passten sie ziemlich gut; baumstammdick, mit Pranken dran, die jeweils sieben Raubtierklauen ausfuhren, jede einzelne so lang wie ein Sensenblatt. Ein rasiermesserscharf geschliffenes Sensenblatt.
   Au weia, dachte Charlie noch, und gleich darauf: Gut, dass momentan niemand meine Gedanken lesen kann. Normalerweise hielt er sich für einen ziemlich sachlichen Kerl und keinen Verschwörungstheoretiker. Hier und jetzt allerdings war genau gar nichts normal, alles stank nach Verschwörung. Und Feuer und Qualm. Außerdem ging alles noch viel irrsinnig schneller weiter als es begonnen hatte.
   Ein Prankenhieb aus stahlhartem dunkelgrauem, mit Feuerfunken durchsetztem Ruß traf Charlie, und er flog rücklings durch die Luft. Klauen zischten blitzend haarscharf an seiner Nasenspitze vorbei.
   „Knapp verfehlt ist auch daneben, Baby“, keuchte Charlie, weil er einfach ein bisschen Frust und Druck aus seinem Kopf ablassen musste. Einem solchen Monster wütende Flüche entgegen zu schleudern, wäre ihm irgendwie doof und uncool vorgekommen.
   Wolkenschleier wogten über ihm und dem feurigen Krater. Fast schien es, als würden auch sie gleich in Flammen aufgehen. Außerdem fielen Charlie am Himmel einige davon flatternde Schemen und seltsame, geflügelte Wesen auf – und ein Pegasus, der in einem Affenzahn einen altmodischen Zirkuswagen hinter sich her durch die Lüfte zog und auch schon wie ein Gespenst hinter zuckenden Blitzen und rasch treibenden Gewitterwolken verschwand.
   Etwa gleichzeitig landete Charlie unsanft auf dem Rücken, leider nicht auf flauschigen Wolken. Schlagartig hatte er andere Probleme, als sich um seine bizarre Umgebung zu kümmern.
   Kein normales Ungeheuer hatte ihm eine verpasst, das stand mal fest. Kein Godzilla, der in den Kinos der Erde seit 1954 im Meer herum watete und sauer auf Japaner war, und kein Es, das in der Kanalisation hauste und es auf Kinder statt auf fiese Eltern abgesehen hatte, die ihre Kinder vernachlässigten oder prügelten oder beides. Dieses Ding hier war mindestens doppelt so groß wie der gute alte Film-Godzilla, und es bestand mittlerweile ganz aus öligem Rauch, Schatten, wirbelnden Funken. Und eindeutig einer Menge Wut auf alles, was sich auch nur ein klitzekleines bisschen bewegte, zum Beispiel, weil es atmete.
   Charlie schlängelte sich auf den Bauch herum und hielt kurz mal den Atem und seine inzwischen doch ein bisschen entsetzten Gedanken an.
   Na, super, durchfuhr es ihn in Endlosschleife.
   Die tödlichen Raubtierklauen, die ein paar Meter über ihm durch die Trümmer harkten, die bis vor kurzem noch massive Burgmauern, Gebäudewände oder Fenster und Teile eines Daches gewesen waren, pflügten ganz eindeutig auf der Suche nach ihm dort herum.
   Tja, der geheimnisvolle Typ mit den langen roten Haaren hatte ihn ja vorgewarnt.
   Eine uralte Magie wurde entfesselt, sei bloß vorsichtig. Davon hängt alles ab. Zwar hatte er diese Warnung in einem Traum ausgesprochen, aber, hey – warum auch nicht? Wenn alles durchknallte, war es da nicht logisch und am sinnvollsten, einfach mal von dieser Grundlage ausgehend weiterzudenken?
   Es gibt nichts, was es nicht gibt. Alles ist möglich flimmerte schließlich schon im Vorspann des zweiten Indiana Jones-Films über die Kinoleinwand, wenn auch auf Englisch.
   Charlie verkniff sich ein hysterisch-ungläubiges Kichern.
   Alles ist möglich? Er kannte sich selbst kaum mehr. Aber er gab sein Bestes, flach zu atmen, sich tot zu stellen und das Monstrum unauffällig im Blick zu behalten.
   Nachdem das Ding ihn vor ein paar Sekunden zwar mit einem überraschenden Schlag erwischt hatte, ihn danach aber trotzdem nicht hatte schnappen und abmurksen können, verdoppelte es nun seine Anstrengungen, aus dem Abgrund des Mauerspalts und dem tobenden Feuerinferno herauszukommen und ihm vollends den Rest zu geben.
   In den Monster-Augen zuckten Blitze voller wilder Monster-Vorfreude.
   Falls die grellroten Höllenfeuer-Abgründe in dieser Alptraumfratze Augen waren. Was Charlie nicht genauer überdenken konnte, denn das, worauf er mit Wucht gelandet war, vermutlich eine Ex-Wand, erzitterte plötzlich, sackte nach unten, prallte krachend irgendwo auf und surfte dann zusammen mit ihm eine bestimmt nicht endlos weite Schutthalde aus geborstenen Mauern, Balken und Dachschindeln entlang abwärts.
   Genau! Keine drei Meter weiter unten wogte geisterhaft das Wolkenmeer gegen das bizarre, schemenhafte Trümmer-Ufer.
   Was, wenn ich einfach durch die Wolken durchbreche? Falls ich diese Ufer-Grenze überschreite.
   Er dachte nicht daran, weiter darüber nachzudenken.
   „Eins nach dem Anderen“,flüsterte er grimmig. Wie Terra, kurz bevor sie durchdrehte und um sich schlug.
   Über ihm zwängte sich Rauch-Godzilla unablässig weiter ins Freie und schlug noch ein paar massive, mannsdicke Mauern zu Klump. Das Ding schien vor allem darüber ziemlich sauer zu sein, dass der Pegasus mit dem Zirkuswagen längst außerhalb seiner Reichweite war. Irgendwie fast logisch, dass er sich deshalb wieder auf sein Opfer Nummer 2 konzentrierte und wenigstens mit dem noch ein bisschen seine Monster-Spielchen spielen wollte.
   Vermutlich filetieren und so weiter.
   Bis es so weit war, schleuderte seine andere Rauch-Feuer-Pranke eine komplette Außenmauer der Burg durch die Gegend, eine mit einem steinernen Gargoyle daran.
   Der in Todesangst kreischte, wie ein ganz normales Lebewesen.

 


Zwei: Traumwandler?

Schon im nächsten Moment flatterte der Gargoyle ein einziges Mal mit einer seiner steinernen, drachenartigen Schwingen … und brach von seiner Mauer ab.
Dass dies in absoluter Lautlosigkeit und eingehüllt in Höllenruß und einen entsetzlichen Gestank nach brennenden Fensterrahmen, Dachbalken, Pergamenten oder Büchern geschah, verschlimmerte alles noch, obwohl alles längst schon die Qualität eines astreinen Alptraums übertraf.
   Krachend schlug der steinerne Koloss viel zu nahe bei Charlie ein. Dabei schrie er nicht mehr. Sein steinernes Löwenmaul klappte nur noch stumm auf und zu. Uralter, massenhaft hochgeschleuderter mehliger Mörtelstaub sank gemächlich in dieses Maul und auf Charlie herab.
   Das Trümmerstück, auf dem Charlie rücklings lag und einen Hustenanfall unterdrückte, ruckelte ein paar Zentimeter weiter abwärts. Dorthin, wo sich prompt die Wolken kräuselten, als seien ein paar Haie angelockt worden, die es eigentlich auch gar nicht geben konnte, die sich aber trotzdem zufällig in genau diesem Wolkenmeer tummelten.
   Millimeterweise drückte Charlie sich hoch und riskierte einen Blick die Schutthalte entlang, hoch zu der Burg ... Dem Wolkenhort, berichtigte er sich.
   Sich zu bewegen, tat nicht halb so weh, wie er befürchtet hatte. Trotzdem hatte er weiterhin keinen blassen Schimmer, wie er hierhergekommen war, und was er hier zu suchen hatte. Und was genau alles davon abhing.
   Das Feuer-Qualm-Monster kam mit einem letzten energischen Ruck und Rundumschlag aus dem Explosionskrater frei.
   „Oh, Mann, Scheiße! Fuck!“, murmelte Charlie von Herzen.
   Staub und bitter schmeckender Qualm kribbelten auf seiner Zunge.
   Dann hörte Charlie doch noch etwas. Ein Geräusch, als werde einem Drachen bewusst brutal ein Zahn aus dem Kiefer gebrochen. Einer der Türme der Burg wackelte. Verrottende menschliche Arme und Hände, wuchsen aus seiner Außenmauer, Finger krallten umher und ballten sich schließlich in hilflosem Zorn. Vermutlich, weil der Turm bereits zerbröckelte und in einer gewaltigen Staubwolke fast widerstrebend langsam in sich zusammenfiel. Etwa eine Milliarde Buchseiten – vielleicht von Zauberbüchern? –, eine lächerlich altmodische Schiefertafel und ein paar Dutzend Schulbänke wirbelten aus seinem Inneren hervor, fingen Feuer und verglühten zu Ascheflocken.
   Voller Hass schnappte das Ungeheuer nach ihnen.
   Es war größer als je zuvor. Seine Arme mit den Pranken und Klauen dran wuchsen sogar immer noch weiter in die Länge … na ja, wie Rauchschwaden das halt so an sich haben, solange Explosionsfeuer brennen. Wogende Hitze strahlte davon aus, in alle Richtungen, aber vor allem witternd und tastend in Charlies Richtung, als seien sie Teile des Monsters … was sie wohl tatsächlich waren. Dahinter stapfte das Ungeheuer selber, verharrte ab und zu, schnüffelte und wühlte mit seinen Klauen verdammt aufmerksam in den Schutthalden. Was sich aber schnell als Bluff erwies.
   Einem weiteren unvermittelten und ziemlich gut gezielten Schlag entging Charlie im letzten Augenblick, weil er sich blitzschnell von seinem Trümmerstück herunterrollte, mit der linken Schulter irgendwo anschlug und inmitten einer kleinen Gesteinslawine lieber noch ein bisschen weiter abwärts rutschte, als sich von Qualm-Godzilla packen und zersäbeln zu lassen.
   Die Schuttmassen und er rutschten diesmal ein bisschen langsamer. Immerhin.
   Außerdem hatte er sich noch immer nicht alle Knochen gebrochen. Deshalb war er, ohne lang nachzudenken, auch schon wieder unterwegs, als er mit der Gerölllawine am Fuß der Halde ankam, nur noch ein paar Handbreiten von der beunruhigenden, geisterhaften Brandung oder den Wolkenhaien entfernt. Tief vornüber geduckt, rücksichtslos auf die Hände abgestützt, hetzte er im Zickzack den Trümmer-Abhang wieder hinauf und warf sich mit einem Riesensatz hinter ein steinernes Trümmerstück in Deckung.
   Dieses Trümmerstück entpuppte sich als der Gargoyle; auf dem ersten, flüchtigen Blick ein tonnenschweres Stück Steinmetzarbeit, fast lebensecht. Der Schädel eine bizarre Kombination aus Löwe und Mensch; das auf und zu klappende Löwenmaul wurde eindrucksvoll betont durch wulstige Lippen und vier Tentakel oder Rüssel, die eindeutig nicht aus Stein waren, denn sie zitterten. Genau wie die Lippen.
   Ein Gewirr aus Schlangen und Drachenflügeln umrankte den Körper.
   Charlie nahm es heftig schluckend zur Kenntnis. Aber darum konnte er sich jetzt nicht auch noch kümmern. Er riskierte einen weiteren Blick zu seinem unheimlichen Verfolger hin.
   „Eins nach dem Anderen“, flüsterte er noch einmal grimmig.
   Wieder wie Terra, kurz bevor sie durchdrehte und ohne Rücksicht auf Verluste zuschlug. Aber die unvergleichliche, unberechenbare Terra war nicht hier, leider. Nein, zum Glück nicht – für sie.
   Er blieb im Schutz des Gargoyles reglos liegen, der zum Glück nicht mehr kreischte. Auch Charlie hielt wieder die Luft an, weil sein Herz sowieso viel zu laut pochte. Gut möglich, dass ihn dieses Pochen verriet. Jedenfalls, wenn das riesige Qualm-Feuerfunken-Ding, das verdächtig zielstrebig in seine Richtung stapfte, auch nur halb so gut hörte wie Katzen. Die hörten nämlich sogar das winzigste Fürzchen einer Maus auf hundert Meter Entfernung, mindestens. Also konnte er eigentlich genauso gut auch mal durchatmen.
   „Und sieh mich erstmal an, ich kann gar nichts mehr, gar nichts. Nicht durchatmen, nicht davonfliegen und erst recht nicht helfen“, sagte plötzlich der Mensch-Löwenkopf-mit-Tentakeln-dran-Gargoyle zu ihm, mit einer Stimme, als würden Steine gegeneinander zerrieben werden und dennoch irgendwie jämmerlich. „Deshalb, Traumwandler, nimm die Warnung lieber ernst, denn trotz dieser Warnung bist du ja hier, weshalb du dich also davonmachen solltest. Schleunigst! Denn, es wurde tatsächlich ein magischer Bann gebrochen durch den Einbruch dieses egozentrischen Kobold-Zaubermeisters in die Mitternachtsschule, die unter den Völkern der Welt Camelon als Wolkenhort berüchtigt ist. Und durch seinen Diebstahl eines seit Generationen nicht mehr von einem magischen Wesen berührten Zauberbuches.“
   „Bestimmt erzählst du mir gleich auch noch, dass uralte Magie im Spiel ist“, half Charlie der Stein-Kreatur ein bisschen ironisch aus.
   „… die wurde unkontrolliert freigesetzt, zufällig zwar und nicht in böser Absicht, aber ja-ja-doch, oh ja, uralte Magie ist tatsächlich im Spiel“, presste der Gargoyle völlig ernsthaft, geradezu panisch, heraus, und zwei seiner Tentakel-Rüssel tippten Charlie irgendwie kumpelhaft-zärtlich gegen die Stirn.
   „Ur-uralte Mächte haben nach dem Tod des bisherigen Hort-Meisters nun das Sagen inne über die Kerker mit ihren Bestien-Apparaturen. Abgrundtief böse Mächte, sehr schlimme Mächte, angeführt von einem sehr-sehr bösen neuen Kriegsherren, der alles und alle hasst und sich am Leid Anderer sattfrisst.“
   Viel zu nahe wurde auf den Schuttabhängen plötzlich ein einziger malmender Schritt laut. Der steinerne Gargoyle, der vorhin schon gekreischt hatte, verkniff sich jede weitere Info und kümmerte sich wieder um sich selber. Noch viel lauter als vorhin kreischte er von Neuem los.
   Ein ungeheuerlicher Hieb pulverisierte seinen Mensch-Löwenkopf, seine zuckenden Tentakel oder Rüssel, das sacht wimmelnde Gewirr aus Schlangenkörpern und Drachenschwingen sowie eine Menge unschuldiger Mauersteine. Nur lächerliche dreieinhalb Meter hinter dem, was vor einem halben Lidschlag noch ein Gargoyle-Informant gewesen war, ragte schnuppernd das Qualm-Monstrum wie ein Gebirge empor.
   Charlie dachte noch immer nicht dran, zu kreischen.
   E wurde nur wütend.
   Okay – nicht lange.
   Das Rauch-Ding tat einen gewaltigen Schritt genau auf Charlie zu.
   Ein riesiger Fuß hob sich. Zersplitternde Trümmer wirbelten und prasselten von seiner wabernden Qualmsohle runter. Mannshohe Mauerteile wurden von schemenhaft flirrenden Pranken ungeduldig beiseite gedrückt, zerbarsten, gerieten ins Rutschten, kullerten abwärts. Gesteinssplitter und Glasscherben rieselten hinterher. Mit vernichtender Wucht krachte der Monsterfuß in die Trümmerlandschaft herab.
   In letzter Sekunde hatte Charlie sich weggeschnellt, mit einer Kraft, die er sich selber nie zugetraut hätte. Wo er der Länge nach aufschlug, geriet über ihm die ganze Schutthalde in Bewegung … und rutschte genau auf Charlie zu. Sie riss ihn mit sich, über das mit Trümmern übersäte Ufer hinaus … und hinein in die geisterhafte Brandung der Wolken.
   Was dachte man in dem Sekundenbruchteil, bevor man starb?
   Traumwarnung, uralte entfesselte Magie, fasste Charlies Gehirn zusammen, was offenbar Sache war. Schlimme böse Mächte. Der bisherige Meister des berüchtigten Wolkenhorts tot. Der neue voller Hass, ein Kriegsherr, der sich vollfrisst mit dem Leid Anderer. Und mich nennt ein Gargoyle Traumwandler.
   Das Ganze hörte sich an wie ein lässiger kleiner Vortrag eines sehr coolen, aber auch perfekt wahnsinnigen Professors für Apokalypsologie.
   Jetzt fluchte er doch.
   Seltsamerweise spürte er jetzt erst einen klaffenden Riss oder Schnitt, links an seiner Stirn. Und warme, klebrige Nässe.
   Wahrscheinlich Blut.
   Immer noch mehr Trümmerstücke polterten hinter ihm, über ihm, den Abhang herab. Eine brausende Masse unheimlicher Schatten wirbelte um ihn her. Einige kleinere steinerne Trümmer des Wolkenhorts trafen ihn.
   Und die Wolken trugen ihn natürlich nicht.
   Wenigstens das war noch normal.


ZWEITER TEIL:
CAMELON
 
Eins: In den Waisenhäusern von Qham-Dhura

„Sei bereit!“, zischten die tausend Stimmen des Dunkels direkt in ihm.
   Der Namenlose gehorchte.
   Und der Namenlose wusste, mit ihm gehorchten ringsum hundert andere Schattenwächter genau wie er. Uraltes Gestein knirschte kaum hörbar, als er Millimeter für Millimeter den Griff aus Knochensplittern und Bestien-Reißzähnen des gewaltigen Schwertes fester umfasste … und wieder eins wurde mit dem Mauerwerk hinter sich. Mit dem Schmerz, den ihm die Meister der Lüge auferlegt hatten, sowieso.
   Namenlos, dachte er ergeben. Wachsam lauernd. Bereit, dem Dunkel zu dienen und zu töten. Er war nichts. Er war Stein. Nur eine weitere, reliefartig angedeutete Statue des namenlosen Dämonengottes, dem der Kult in Qham-Dhura huldigte. Lebendtoter Teil der Wand jenes hohen Gewölbegangs, der dreißig Schritte weiter rechts am Fuß der Treppe der Gehörnten mündete.
   Da hier unten – nahe der marmornen Eingangshalle mit ihrem Zentrum, der Einen Wendeltreppe hinab in die tiefsten Verliese zu den Verfluchtgeborenen und den Schächten der Traumspürer – traditionell seit Gründung der gigantischen, elfgeschossig unter- und oberirdisch ineinander verschachtelten labyrinthischen Waisenhäuser von Qham-Dhura vor tausend Jahren noch niemals Fackeln zu finden waren, lauerte er als Schatten unter Schatten in der allgegenwärtigen Finsternis der labyrinthischen Korridore, Treppenfluchten, Abgründe und Fallgruben auf die Widerspenstigste, die das Dunkel ihm angekündigt hatte. Vielleicht vor Jahrhunderten, vielleicht vor wenigen Wimpernschlägen. Er kannte den Unterschied nicht mehr.
   Die Ungewissheit ließ ihn kurz blinzeln, als wäre er noch ein lebendes Wesen. Tatsächlich klärte sich der Blick seiner nachtsichtigen, wenn auch schon lange toten Augen. Danach war er sich wieder gewiss: nichts entging ihnen, nicht der geringste Luftzug, weder von hoch droben, noch von der Wendeltreppe her, oder gar den Verliesen, in denen die Kinder eingesperrt waren und wimmerten oder fluchten, seit die Erz-Kindseintreiber der Meister sie ihren magisch begabten Eltern entrissen und hierher verschleppt hatten.
   Der Namenlose empfand nur kurz eine Art … Unbehagen, wie man es in der Sonne spazierengehend empfand, wenn plötzlich eine Gewitterwolke den Tag verfinsterte. Über ihn war das Urteil gefällt worden. Den Verfluchtgeborenen stand dies bevor, bald: Im Ritual der Wandlung hoch über der Welt, im Wolkenhort. Ewiges Halbleben oder ein Dasein als Schattenwächter oder noch Schrecklicheres, als Strafe für ihre frevlerischen Eltern.
   Auch die Widerspenstigste würde ihrem Schicksal gegenübertreten müssen; einer Gefängniskammer mochte man entkommen, hundert Schattenwächtern allerdings, jeder einzelne Gespenst, Nichts, Gestein zugleich, nie. Niemals.
   „Sie wagte es, sie hat die Treppe der Gehörnten betreten! Sie ist tatsächlich auf dem Weg nach unten, sie eilt der Tiefe entgegen, eilt dir entgegen, Namenloser!“, tuschelten die Stimmen des Dunkels mit ungeheurer, hasserfüllter Wucht direkt in seinem Kopf. „Schnapp sie dir! Reiß ihr das Herz heraus! Bring sie hinab, zu den anderen Verfluchtgeborenen, hinab in den Abgrund, in die Kälte. Nie, niemals darf sie dem Erben der Macht, dem Weltenwechsler, begegnen!“

***

Die Herrin der ehrenwerten Diebe macht ihrem Ruf Ehre.
   Ein einzelner Gedanke nur, aber anerkennend, beinahe stolz.
   Für die Dauer eines einzelnen Herzschlags glaubte der Namenlose, inmitten der Mauer zu wanken. Blinde Panik befiel ihn, und eine wilde Sehnsucht, fliehen zu können. Sein Frevel wurde ihm sofort bewusst. Rasiermesserscharfer Stahl, der mit einem entschlossenen Stoß blitzend in Fleisch glitt. Und Wehmut, Erleichterung. So fühlte es sich also an, plötzlich wieder einen eigenen Gedanken denken zu können. Einem Befehl des Dunkels zu trotzen.
   Als wäre in einem Deich ein winziger Durchlass entstanden, folgte eine weitere Eigenmächtigkeit.
   Die Herrin der ehrenwerten Diebe, hallte ein Echo seines Frevels in ihm nach; behäbiger dieses Mal, jedoch weiterhin stolz. Warum? Was geschah mit ihm? Er sah die Luftströme bereits, die weit über ihm, auf der Treppe, von ihren geschmeidigen Bewegungen ausgelöst wurden und ihr voraushuschten.
   „Sei bereit!“, hörte er das Dunkel rings um ihn her und tief in seinem Innersten geifern. Vielleicht, weil er begann sich zu erinnern … an etwas, das ihm wichtig gewesen war. Früher. Vor Ewigkeiten. Oder … weil er etwas empfunden hatte? Was? Bei den Neuen Göttern, was?
   Wie ein Irrlicht hielt sich eine Erinnerung knapp außerhalb seiner bewussten Wahrnehmung. Jetzt erfüllte ihn kein Stolz mehr, nur noch Traurigkeit. Er verstand es nicht, gar nichts mehr verstand er.
   Ganz offenbar entging dem Dunkel nicht, wenn eine blutjunge Verfluchtgeborene aus ihrer Gefängniskammer im höchsten elften Stock der Waisenhäuser entwich, wohl aber, dass er, ein Namenloser, halb Schatten, halb Stein, jählings wieder zu eigenen Gedanken fähig war. Zu merkwürdigen Gefühlen, wie ein menschliches Wesen.
   Aber … War sein Frevel wirklich unbemerkt geblieben? Konnten die Hexenmeister doch keine allmächtigen, Ewigkeiten überdauernden Zaubergespinste wirken? Und wenn nicht … was passierte mit ihm, jetzt, da er wieder denken konnte, da er sein Schicksal nebelhaft erahnte und darüber grübelte? In seinen Augenwinkeln sammelten sich Tränen und wurden sofort knisternd zu Stein. Er verstand nicht, wie das möglich war, nach Ewigkeiten. Er begriff nur, dass er sich mit dem Zeitablauf nicht mehr auskannte, dass alles durcheinandergeraten war, alles längst zu spät war.
   Nur sehr kurz war er unachtsam gewesen.
   Dennoch hielt er das Breitschwert längst blank gezogen und eisern gepackt. Er war bereit, aus dem Hinterhalt des Dunkels anzugreifen und zuzuschlagen. Denn vor wenigen Jahrhunderten oder nur vor einem einzigen Lidschlag hatte er noch getreulich gehandelt, hatte dem eisigen tausendfachen Geifern „Sei bereit!“des Dunkels gehorcht, direkt in seinem Gehirn, das nicht länger tot war.
   Da!
   Keinen Lidschlag später bemerkte er schon den Lufthauch, der einen kraftvoll-anmutigen Satz über gleich drei Stufen hinweg begleitete.
   Die Herrin der ehrenwerten Diebe bewegte sich so fließend schnell die Stufen herab, wie es eigentlich keinem menschlichen Wesen ihres Alters möglich sein konnte.
   Ungläubig starrte der Namenlose die schmale Gestalt an, die jetzt gleich einem Spuk am Fuß der uralten, von millionenfacher Nutzung abgeschliffenen Marmorstufen auftauchte. Jeder, der ihr nur einen flüchtigen Blick widmete, unterschätzte sie gewiss leicht. Was ihr allerdings bestimmt gerade recht war. Sie war schmal und unscheinbar, ja. Ihre engen wildledernen Hosen waren nicht willkürlich gewählt. Sie sollten ihre schlaksige Gestalt betonen, genau wie die unterschiedlich großen Stiefel von der Schärfe ihres Verstands ablenken sollten. Gewiss bestand sie nur aus Muskeln. Nichts an ihr schien zusammenzupassen, ihr Gesicht war nicht hässlich, aber auch keine Schönheit, noch nicht. Dafür blitzte so etwas wie Wahnsinn in ihren unnatürlich hellen blauen Augen – und wilde Entschlossenheit.
   Wäre sie so übermütig gewesen, den rechten Arm auszustrecken, ihre Fingerspitzen hätten das Relief seines kolossalen steinernen Wächterkörpers gestreift. Doch sie verlor keine Zeit, sie stürmte bereits lautlos der marmornen Eingangshalle entgegen, der Einen Wendeltreppe. Folgte den wispernden Geräuschen der Verfluchtgeborenen, die in der Tiefe eingekerkert waren.
   Der Namenlose folgte der Widerspenstigsten innerhalb der Mauer, huschte durch jahrhundertealten Stein, winzigste Mörtelfugen. Er nutzte es, ein Nichts zu sein, noch weniger als wie feinster Staub zu sein, aufgewirbelt von eisiger Zugluft über endlosen Regalreihen voller uralter Bücher. Doch bei aller Konzentration auf sein Voraneilen und die mörderisch gefährliche Beute spürte er stets den brodelnden, zornigen Aufruhr des Dunkels und der anderen Schattenwächter.
   Sie alle waren bereit, sich rechtzeitig auf die Herrin der Diebe zu stürzen.
   Bald.
   Plötzlich aber wusste der Schattenwächter in einem Aufzucken unheimlicher Hellsichtigkeit – dieses Mädchen würde gegen das Dunkel bestehen. Die Herrin der ehrenwerten Diebe würde die Verfluchtgeborenen aus den Labyrinthen der ineinander verschachtelten titanenhaften Waisenhäuser von Qham-Dhura befreien. Sie würde sie hinausführen aus der Kälte, vorbei an den zu dicken Eis-Adern gefrorenen einstigen Wasserrinnsalen an den Wänden. Vorbei an allen anderen Schattenwächtern, die wie er vom Dunkel zu purer Blutgier aufgehetzt waren.
   Oder sich mitten durch sie hindurch kämpfen.
   Der Befehl des Dunkels, anzugreifen erfolgte im gleichen Moment, und gegen seinen Willen brach der Namenlose aus dem Schutz der Mauer heraus und mit ihm fünf, sechs seiner Gefährten; zwei explodierten sogar aus der gewölbten Decke des Gangs hervor und ließen sich einfach fallen.
   Ein Inferno aus Geräuschen, Mörtel, Gesteinstrümmer, der Staub von Jahrtausenden brachen über sie alle herein. Es schien, als würde die gesamte Welt Camelon zerplatzen.
   Der Namenlose ertappte sich dabei, dass er schrie. Sein Hervorbrechen aus der Tarnung der Mauer musste die Widersspenstigste schon davor erahnt haben, denn fast gleichzeitig drehte sie sich wie eine der Derwisch-Kämpferinnen des lebenden Pilzes Goarthim mitten in einer geschmeidigen Drehung beiseite.
   Die Spitze seiner Beidhandklinge erwischte sie trotzdem noch an der linken Wange und riss eine klaffende halbmondförmige Wunde. Die sie nicht beeindruckte. Eher wütend wischte sie sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht, schüttelte unwillig den Kopf. Struppige, knapp unterkieferlange schwarze Haare wirbelten, als sie tänzelnd keinen halben Schritt zur Seite wich und den Angriff eines anderen Schattenwächters überlebte. Direkt hinter und neben ihr krachten jene zu Boden, die sich aus der Decke gelöst und auf sie herabgestürzt hatten. Noch während sie zerbarsten, hörte der Namenlose das unscheinbare Mädchen auflachen.
   Sie spuckte aus, trotzig. Eisig-blauer Wahnsinn loderte in ihren Augen.
   Der Namenlose, der sich mit einem Ruck endgültig aus dem Mauerwerk freigerissen hatte, stürmte dennoch mit der geballten ungeheuerlichen Kraft des Dunkels auf sie zu …
   Mühelos, elegant wie Luft, entging sie erneut dem sicheren Tod durch seine Klinge – und den Schwerthieben von zwei, drei anderen Schattenwächtern außerdem.
   Und stand trotzdem fast sofort wieder federleicht und entschlossen ihm zugewandt.
   Kein bisschen außer Atem. Sogar die Zeit fand sie noch, sich mit der rechten Hand unwirsch die langen Strähnen aus dem Gesicht zu wischen, die ihr sogleich erneut vor den Augen hingen.
   Bewusst erkannte der Namenlose das Mädchen erst daran wieder.
   Wie oft habe ich ihr diese Geste abzutrainieren versucht?, durchzuckte es ihn.
   Elegant geduckt von links nach rechts pendelnd erwartete sie seinen dritten Versuch, sie zu töten. Perfekt ausbalanciert. Kampfbereit. Das junge Gesicht eine totenblasse Grimasse völliger Konzentration.
   „Tochter“, grollte es tief aus seiner steinernen, toten Brust empor.
   Verzweifelt versuchte er noch, seinen Angriff aufzuhalten. Wie eh und je im Bann des Dunkels… führte er trotzdem jedoch schattenhaft schnell bereits den nächsten Schwertstreich gegen ihren Hals
   Die Bewegung, mit der Thay-Lee dem tödlichen Aufblitzen der gewaltigen Klinge auswich, erfolgte noch viel schneller, war nur ein schwarzes Flirren. Unter dem Schwerthieb hindurch sprang sie ihm entgegen und rammte mit der Schulter gegen seinen steinernen Brustpanzer. Die Wucht dieses selbstmörderischen Angriffs trieb ihn taumelnd zurück, gegen fünf seiner Wächter-Gefährten.
   Kaum, dass der Namenlose das Huschen wahrnahm, mit dem die totenblassen Knöchel ihrer linken Hand der vom Helm nicht geschützten Stelle knapp unterhalb des Kehlkopfes entgegen züngelten. Mit unglaublicher Beiläufigkeit wurde seiner steinernen Faust das Schwert entrissen. Wie durch Zauberei führte sie es bereits mit ihrer Linken. Schmelzendem Gold ähnlich, glühte und loderte es in der Finsternis auf, begleitete jeden ihrer kraftvollen Schläge mit einem Fauchen und verwandelte fünf, sechs, sieben weitere Schattenwächter in brodelnde, zerstiebende Kaskaden uralten Staubs.
   Der Namenlose schüttelte sich behäbig, wollte sich noch einmal seiner verfluchtgeborenen Tochter zu erkennen geben. Ihr alles erklären, was warum geschehen war. Doch längst schon explodierten weitere Schatten aus den Wänden und der Decke des Ganges und warfen sich, zurückverwandelt in steinerne Giganten, in den Kampf.
   Der Namenlose taumelte den angreifenden Kolossen brüllend und berserkerhaft um sich schlagend entgegen, versperrte ihnen den Weg, beachtete die zischelnden Befehle des Dunkels nicht mehr weiter, war blind gegenüber dem Aufruhr rings um sich her.
   Viel zu schnell schlug er der Länge nach auf dem Boden auf und meinte, in tausend Stücke zu zerbersten. Aber mit seinen letzten eigenen Gedanken wusste er die Widerspenstigste, die Herrin der Diebe, die Eine Wendeltreppe hinab stürmen, in die eisigen, tiefsten Verliese.
   Seine Tochter würde die anderen Verfluchtgeborenen befreien.


Zwei: Im Schatten von Burg Nebelbrecher

Den schmalen, silbernen Dolch stoßbereit, ruckte Thay-Lee mit einem keuchenden Laut hoch und verharrte reglos.
   Niemand hatte sich angeschlichen. Niemand griff sie an. Qham-Dhura und selbst die Zeit der Ausbildung und der blutigen Kämpfe mit den Amazonen von Rhij waren nur noch wie auseinander rieselnde Ascheflocken im Wind.
   Vergangenheit, dachte sie, zufrieden und traurig zugleich.
   Hier und jetzt, am Strand unterhalb der wie Speerspitzen geformten hohen Kalksteinklippen, an deren Abgrund Burg Nebelbrecher mit ihren vielen Bibliotheken und Studierzimmern Schutz und Sicherheit versprach, war unmerklich finsterste Nacht aus dem Meer und über das Land gekrochen. Lautlos und unaufhaltsam wie die besten ihrer Freunde unter den ehrenwerten Dieben von Sammtho, deren Gemeinschaft sich längst darüber hinaus erstreckte, über Qham-Dhura im Norden hinweg, zur Großen Frostdrift, dreitausend Kilometer weiter, über die seit der Zeit der letzten großen magischen Schlacht der Schutzzauber des Rates der ältesten weisen Frauen der Gebirgsstadt Zeb-Carson und der Eissegler ausgesprochen war.
   Thay-Lee zwang ihre Gedanken fort von Kälte und ewiger Erstarrung, tastete mit der waffenlosen Hand kurz über das halbmondförmige blasse Narbengewebe oben an ihrer linken Wange und spürte gleich darauf mit derselben Handfläche in einer behutsamen Bewegung der Wärme des Tages nach.
   Sie nistete noch zwischen den zuoberst liegenden Sandkrumen, schmiegte sich an spärlich wachsende Grasstängel oder trieb die Strandwanderblümchen zur Eile, sodass sie sich entweder noch unter den großen Felsen hangabwärts von Mischas und Thay-Lees Lagerfeuer vor den Krebsen und der Kühle der Nacht in Sicherheit bringen konnten. Ein paar von ihnen rückten keck näher ans hoch empor lodernde Feuer heran und unterhielten sich summend und zwitschernd über die Aufregungen ihres Tages. Die mutigsten oder faulsten dieser kleinen Schar neckte Lee ein bisschen. Einfach so. Vielleicht aber auch, weil eine Diebin immer gut beraten war, ihre Finger beweglich zu halten.
   Hauchzart wie der Wind strich sie mit dem Zeigefinger rings um ihre farbenprächtigen Kopf-Blütenknospen und über die struppigen und doch samtweichen Tasthärchen rings um sie herum, mit denen die Winzigen sich tagsüber bei Gefahr durch Raubwürmer noch an den geringsten Windhauch klammern konnten, der hier ständiger Gefährte des Meeres war … und sie als ihr freundlicher Verbündeter jederzeit im Nu davontrug, landeinwärts.
   Selbst das Rauschen der Meeresbrandung klang mit einem Mal gedämpft und geheimnisvoll. Behutsam rollten die Wellen in die Bucht herein. Wie silbrige Zungen tasteten sie über den Sand, ließen ihn in ihrem Glanz aufleuchten und schafften es beinahe, bis zu Mischas Zehenspitzen herauf zu gelangen.
   „Hey Weltenwechsler“, sagte Thay-Lee leise, „ich weiß, dass du wach bist und mich beobachtest.“
   „Versteh ich nicht! Was hat mich verraten“, flüsterte er, genervt.
   „Du hast anders geatmet.“
   „Na ja, das war Absicht, ich wollte sehen, ob die behaglichen Ohrensessel in den Bibliotheken des Nebelbrechers dich schon ein bisschen träge gemacht haben, oder vielleicht die tausend Geschichten von damals, die dir von den Herren des Hauses ununterbrochen aufgetischt werden.“
   Erst schwieg Thay-Lee nur und bedachte ihn mit einem wölfischen Lächeln, dann entschied sie sich doch, zu antworten und wischte sich davor noch die langen Haarsträhnen vor dem linken Auge weg. „Nur einer von ihnen ist geschwätzig.“
   Mischa zwinkerte ihr zu, zog die Beine im letzten Moment an, bevor seine Zehenspitzen nass wurden, und saß ihr jenseits des Lagerfeuers gegenüber, in einer einzigen fließenden Bewegung mit angewinkelten Beinen, die Arme darum geschlungen, das energische Kinn auf die Knie gestützt.
   Keinen Wimpernschlag lang hatte er sie aus den Augen gelassen.
    „Also gut.“
    Ganz kurz nur zögerte sie noch und nickte doch, bereit, das Spielchen mitzuspielen. „Sehr, sehr träge haben diese Geschichten mich werden lassen, und mehr noch die vielen herrlichen uralten Bücher, die hier in so vielen Räumen auf allen Stockwerken versammelt sind und darauf warten, von uns gelesen zu werden. Sind wir nicht genau deshalb hier? Um mehr zu erfahren über … so Vieles.“
   Auch er grinste jetzt.
   Die unstete Flackerhelligkeit der Flammen ließ seine schulterlangen, roten Haare leuchten wie Rost und vertrieb das Dunkle aus seinen scheinbar unergründlichen, oft ein wenig traurigen Augen. Sie wusste, er ahnte, was in ihr vorging. Was sie wieder und immer wieder durchlebte, sooft sie die Augen schloss und zur Ruhe kommen wollte. So viele Abenteuer hatten sie seit seiner rätselhaften Ankunft und ihrer noch unerklärlicheren allerersten Begegnung im Reich der Sandwirbler gemeinsam durchlebt. Und überlebt, oft gegen jede Chance. Mehr als einmal hatte Mischa sie im Schlaf reden oder sogar schreien und fluchen hören.
   Aber noch immer fragte er sie nicht, was in Qham-Dhuras ungeheuerlichen Waisenhäusern an Schrecklichem vorgefallen war.
   Dort unten, in den tiefsten Labyrinthen. Vor den Verliesen der Verfluchtgeborenen.
   Vielleicht hatte sie ihm deshalb den nicht minder ungeheuerlichen Zauberstein noch nicht gestohlen und sich davongemacht. Wie schlaue Diebinnen dies tun sollten, die wussten, was für eine unheimliche, tödliche Macht die Meister der Lüge waren.
   Sie beugte sich vor und rammte ihren Dolch in den Sand vor sich. Als könnte sie so einen Schlusspunkt unter Albträume dieser Art setzen.

***

Das Gegenteil geschah. Ein völlig neues Grauen brach über den Weltenwechsler und sie herein.
   Die Nacht, die bisher so ruhig und friedlich wie das nächtliche Meer gewesen war, verwandelte sich in zersplitterndes dunkles Spiegelglas. Ein Donnerschlag krachte, der selbst die mächtige Burg Nebelbrecher kurz in ihren Grundfesten wanken und das Meer brodeln ließ. Den gellenden Schrei hörte Thay-Lee erst jetzt. Hinter einem der Turmfenster flammte es Orangerot auf. Über ihr klirrte und splitterte Glas. Ein Blitz aus purer Schwärze spaltete die Nacht. Der Schrei gellte noch immer – und kam unnatürlich schnell näher!
   In hohem Bogen sauste etwas Dunkles durch die Nachtluft heran, schwirrend, wirbelnd, schnell wie ein Sturm. Wolken trieben vor die perlmuttbleiche Sichel des Mondes am Horizont und sperrten die dunstige Helligkeit aus, die er geschenkt hatte. Nichts mehr wirkte wie verzaubert an diesem Strand. Burg Nebelbrecher drohte nur noch als düsterer Umriss nah am Abgrund der Kalkfelsen, etwas Waberndes, Lebendiges, bereit, sich auf sie herab zu stürzen. Selbst die Strandwanderblümchen hatten mithilfe des auflandigen Nachtwindes die Flucht ergriffen.
   Das Lagerfeuer war fast heruntergebrannt. Die Glut leuchtete ein letztes Mal auf wie erlöschendes Leben.
   Lee sprang bereits über diese Glut hinweg, wollte Mischa schützend zu Boden reißen, vor welchem Angreifer auch immer. Doch dieses Mal war sie zu langsam. Ein gezacktes Etwas traf sie mitten im Sprung an der Stirn. Ein Bruchstück.
   Kein Spiegelglas.
   Pure Nacht.

 

***


Copyright © 2024: Martin Eisele-Baresch

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   Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig.






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